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Misa
12.03.2004 14:56

hab auch schon gesehn, dass die geschichte nicht von ihr ist, aber gut find ich sie trotzdem!^^

Misa :-))

Marya
10.03.2004 20:21

habs schon gesehen  biggrin

Foolish Fox Furry
10.03.2004 20:15

Nein , wie in einem anderen Thread erklärt ist die Geschichte nicht von Silly .

Marya
10.03.2004 20:05

Wow! die geschichte find ich wirklich gut...

Ritschl
07.02.2004 01:42

sorry silly, aber irgendwie nehm ich dir das ne ab, dass du die geschichte selber geschrieben hast. Ist mir ja eigentlich auch egal, aber gerade der Anfang und die Ansprechhaltung "sie" verwundert mich ein wenig.

cya Ritschl

Misa
06.02.2004 22:37

WOW!! die ist ja noch besser, wie die andere!!!^^ du solltest echt anfangen Bücher zu schreiben!^^
Misa :-))

Silly
06.02.2004 20:54

Erinnerung eines toten

Part 1

Bestimmt haben sie schon einmal jemanden sagen hören - vermutlich war es ein alter, dickbäuchiger Priester auf einer für sie vollkommen bedeutungslosen Beerdigung -, dass alles was auf dieser Erde wächst und gedeiht - jedes Tier, jede Pflanze und auch jeder Mensch - vergehen muss, um dem Neuen, dem Aufstrebendem zu weichen und dass dies ein unvermeidliches Gesetz der Natur ist, dem jeder unterworfen ist. Doch lassen Sie sich sagen, dass dies nur auf die Welt zutrifft, die Sie kennen und in der Sie zuhause sind. Denn hinter dieser Welt verbergen sich oftmals Dinge, von denen Sie nicht einmal etwas ahnen, oder, die Sie, wenn Sie sie nicht vollkommen verdrängen können, als Märchen und Sagen abtun. Und es gibt Wesen, welche unbeeinflusst sind von solch leeren Begriffen, wie Zeit oder Alter, Wesen, die geschaffen werden und doch nicht vergehen, Wesen die den Menschen ähnlicher scheinen als jedes Tier und die sich doch mehr von ihnen unterscheiden als ein Stein sich von der Sonne, mehr als ein toter, verrotteter Körper sich von einem lebenden Organismus unterscheidet. Wesen wie ich.
Wir leben unter euch, unerkannt und einsam, doch manchmal geschieht es, dass sich die Lebensfäden eines Sterblichen und eines der Unsrigen überkreuzen oder gar verheddern
und...
Doch ich greife der Erzählung vor und das ist nie gut, wenn man eine Geschichte erzählen will. Noch dazu, wenn es eine Geschichte ist, die für sie vermutlich um vieles fantastischer und grotesker klingt, als sie zu glauben bereit sind und die nichts mit Ihrer eigenen kleinen Welt zu tun hat; eine Geschichte, die sie am besten schnell wieder vergessen, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen.
Die Geschichte, die ich ihnen erzählen möchte, beginnt an einem nasskalten Novemberabend, in einer der kleinen verwinkelten Gassen der Stadt Venedig:
Es regnete in Strömen und wie so oft um diese Jahreszeit hatten die Fluten der Lagune den Kampf um die zahllosen kleinen und größeren Plätze der Stadt längst für sich entschieden. Die Gassen waren leer geworden, die wenigen Touristen, die Venedig zu dieser Jahreszeit noch besuchten, harrten, von der Kälte und dem Regen erschreckt, in ihren Hotelzimmern aus, und warteten auf besseres Wetter; das heißt, wenn sie nicht gleich abzureisten, denn besseres Wetter war nicht in Sicht. Nicht, dass das etwas besonderes gewesen wäre.
So viele Touristen Venedig auch besuchten, wenn es schön war, wenn die Sonne über dem Piazza di Marco strahlte und die Lagune in ihrem hellen Schein glitzerte, so schnell waren sie auch schon wieder verschwunden, wenn die dunklen Monate kamen und Venedig in ein düsteres Zwielicht tauchten, in dem die Schatten verschwimmen und das Heben und Sinken des Wassers den Rhythmus des Lebens bestimmt.
Und ich glaube dies, diese Beschränkung auf die schönen Seiten der Stadt, ist der Grund, weshalb die Venezianer die Touristen verachten. Oh sicher, sie freuen sich über sie; dass sie in den Hotels übernachten, die Gaststätten besuchen und allerlei unnötige Andenken in den unzähligen Souvenirshops kaufen. Aber sie betrachten sie mit der gleichen Geringschätzung, mit der wir eine Kuh betrachten, die wir melken und deren Milch wir trinken, oder ein Schwein, dass wir schlachten, um es zu verspeisen. Ja, man könnte sagen, die Stadt ernährt sich von den Touristen, aber sie verachtet sie ... und ich tue es ihr gleich.
An diesem Abend jedenfalls war es nur allzu unwahrscheinlich, dass ich auf meinem Spaziergang sonderlich vielen Menschen begegnen würde, denn das Wasser war mittlerweile so hoch gestiegen, dass meine Füße nass zu werden begannen, trotz der schwarzen Gummistiefel, die meine Knöchel umschlossen.
Ich genoss die Stille, in der sich Venedig zu befinden schien, nur das leise Prasseln des Regens auf den Hausdächern war zu hören, doch seltsam gedämpft; als wäre das Wetter bedacht so wenig Lärm wie möglich zu verursachen, um die Stille des Augenblicks nicht zu stören.
Durch eine laute Stimme wurde ich aus meinen Gedanken gerissen: "Fuck Wetter! Fuck Regen! Fuck Venedig! Natürlich war's deine verfuckte Idee mitten im Winter nach Venedig zu fahren! Fuck!" Ich hob meinen Kopf und sah zwei Punks, die in einem Wartehäuschen der Busboote von Venedig vor dem Regen geflüchtet waren und sich nun gegenseitig, ungeachtet ihrer deutschen Herkunft, mit englischen Ausdrücken attackierten. Ich hatte kürzlich einen Artikel in einer deutschen Zeitschrift gelesen, in dem die Überhandnahme von Anglizismen in der deutschen Sprache beklagt wurde. Nun diese beiden waren das beste Beispiel, dass dieser Artikel doch nicht so aus der Luft gegriffen war, wie ich zuerst vermutete. Verstehen sie mich nicht falsch, ich schätze Punks. Sie sind, trotz ihrer unerträglich ignoranten Art, herzlich erfrischend und ungeachtet ihrer Mir-ist-sowieso-alles-egal-Haltung oft erstaunlich intelligent. Zudem ähnelt ihre Art, Freiheit über alles andere zu stellen, der meinen doch sehr; wenn auch aus vollkommen anderen Gründen und mit einer anderen Perspektive. Tatsächlich sind die Punks meinesgleichen sogar um einiges ähnlicher, als diese verzogenen Gothik-Kids, mit ihren weißgeschminkten Gesichtern, den albernen Gewändern und den Pentagrammen und anderen "Zauberzeichen" als Anhänger, die sich krampfhaft bemühen etwas nachzuahmen, dass sie nicht einmal verstehen.
Ich blieb stehen und musterte die beiden etwas näher. Der eine war ein regelrechter Hüne, gut zwei Meter groß und erstaunlich massig, mit einer zerschlissenen Lederjacke, auf der zahlreiche Aufnäher prangten. Darunter trug er ein schwarzes T-Shirt mit irgendeiner unleserlichen Aufschrift, eine ausrangierte Armeehose und schwarze Springerstiefel mir ebensolchen Schnürsenkeln. Auf dem Kopf hatte er etwas, dass erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem plattgefahrenem Kanarienvogel offenbarte, sich bei näherer Betrachtung aber als seine wild durcheinander gefärbten Haare herausstellte, die in unmöglichem Winkel von seinem Kopf abstanden. Sein Gesicht wurde von einer riesenhaften Narbe bestimmt, die sich von seinem linken Mundwinkel bis zu seinem Haaransatz durch das ganze Gesicht zog; offensichtlich ein Andenken an eine der unvermeidlichen Schlägereien, in die diese Unterart des Homo Sapiens immer wieder verwickelt war. Der zweite Punk war ein relativ zierlich gebautes Mädchen, das in einer blauen Jeansjacke steckte, die sie offensichtlich aus einem Container der Kleidersammlung gestohlen hatte. Eine ebensolche Hose und ein paar ausgelatschte weiße Turnschuhe harmonierten vorzüglich mit dem Hundehalsband, dass sie um den Hals trug. Ihr an und für sich recht hübsches Gesicht wurde durch einen durch Nasenring, der eher einem Zuchtbullen als einem Menschen gestanden hätte und einem schulterlangen Schopf rosa gefärbter Haare verunstaltet. Ihre Nasenflügel bebten, als sie ihrem Kompagnon die Antwort entgegenschleuderte: "Ah ja, jetzt ist es also meine Schuld, dass wir hier sind, ohne irgendwelches Geld, du Arschloch? Meine Schuld? Fuck you, wenn du dich in Rom nicht so beschissen aufgeführt hättest, dann hätten wir jetzt noch 200 Mark übrig und könnten uns ein Zimmer mieten! Aber ich bin schuld, ja? Weißt du, verpiss dich einfach und lass mich mit deiner Scheiße in Ruhe!" Sie starrte in das Gesichts des anderen Punks, das vor Wut knallrot zu werden begann. Sein Arm legte sich auf ihre Schulter, aber sie wischte ihn weg und schrie: "Fass mich nich an du verdammtes Arschloch!" Sie drehte sich um, um zu verschwinden, aber der Hüne riss sie zurück und brüllte mit hochrotem Kopf: "Verdammte Schlampe, von dir muss ich mir sowas nich anhören, von dir nich!" Bedrohlich baute er sich vor ihr auf:" Du nimmst das jetzt sofort zurück, od..."
Sie spuckte ihm mitten ins Gesicht. Für einen einzigen atemlosen Augenblick starrte er sie an, sprachlos, fassungslos. Dann verdunkelte blanker Hass sein Gesicht und er schlug mit all seiner Kraft zu. Seine Faust traf ihr Gesicht mit der Wucht eines Schmiedehammers, ihr Kopf flog in den Nacken, wie der einer Stoffpuppe und selbst von meinem entfernten Beobachtungspunkt konnte ich das Blut riechen, dass aus ihrer Nase schoss. Ihr Körper wurde von der Wucht des Schlages nach hinten geschleudert und ihr Kopf krachte gegen den Mülleimer der Boothaltestelle. Der andere Punk sah für einen kurzen Moment ernsthaft erschrocken aus, doch dann nahm der Hass wieder Kontrolle über ihn, er ballte seine Fäuste und wollte sich auf sie stürzen.
Dann war ich bei ihm. Ich ergriff seine Schulter mit einer Hand und riss ihn herum: "Hören sie sofort damit auf! Lassen sie die Frau in Ruhe!" Er erstarrte für einen Moment, überrascht vielleicht von meinem akzentfreien Deutsch, oder schlicht und einfach von der Tatsache, dass irgend jemand es wagte, so mit ihm zu reden, doch seine alten Routinen erlangten wieder Kontrolle über ihn. Sein von Wut gerötetes Gesicht verdunkelte sich noch mehr, so dass es nun fast die Farbe von geronnenem Blut annahm und aus seiner Brust stieg ein Grollen, tief und gewaltsam, wie das eines Tiger oder eines Bären. Er schlug mit all seiner ungebremsten Kraft zu, voller Wut und Hass, entschlossen mich mit einem Schlag zu Boden zu schicken, oder gar noch mehr. Und er war stark, ohne Zweifel, geübt in zahllosen Kämpfen und Schlägereien, doch schlussendlich war er doch nur ein Mensch, schwach, verwundbar und dumm, wie alle Mitglieder dieser Spezies. Ich hatte seinen Arm abgefangen, noch bevor er überhaupt merkte, dass ich mich bewegt hatte und brach ihn mit einer beiläufigen Bewegung. Ich ließ ihm lange genug Zeit, um den Schmerz zu fühlen und er schrie auf, gemartert und fassungslos, als wäre er um etwas betrogen worden, dass er selbst nicht einmal verstand. Ich schlug meinen Ellenbogen unter sein Kinn und hörte das seltsam leise Knacken mit dem sein Genick brach. Hätte ich ihn nicht festgehalten, wäre er einfach in sich zusammengebrochen, wie eine Marionette deren Fäden man durchgeschnitten hatte.
Er hing schlaff und leicht in meinen Armen, als wäre er ein Baby und nicht ein zwei Meter großer und 200 Pfund schwerer Koloss. Mein Blick richtete sich auf das Mädchen, dass immer noch in der Ecke lag; bewusstlos, betäubt von der Härte des Schlages. Ich konnte es riechen, ihr Blut, dass immer noch aus ihrer Nase sickerte, doch da war noch ein stärkerer Geruch, der des anderen, der noch immer in meinen Armen hing. Sein Kinn war aufgeplatzt in eine klaffende Wunde, aus der mehr und mehr Blut rann, das wie ein Rinnsaal seinen Hals herunter lief und von dem schwarzen Leder seiner Jacke aufgesogen wurde, wie von einem Schwamm. Ich schlug meine Zähne in seinen Hals und trank und trank und trank, bis sein Herz aufgehört hatte zu schlagen und kalt war und leer, wie ein frisch ausgehobenes Grab.

Part 2

Als das Mädchen ungefähr 20 Stunden später aufwachte, hatte ich bereits eine kleine Brühe für sie zubereitet, ihren Kopfverband erneuert und die Wunde ausgewaschen und untersucht und ihre wenigen Habseligkeiten durchsucht. Die Wunde an sich war nicht weiter schlimm, es war vielmehr die Wucht des Aufpralles gewesen, die für die Bewusstlosigkeit verantwortlich zeichnete. Ihre Besitztümer waren schnell aufgezählt: In einem alten, zerrissenen Rucksack befanden sich außer einer zweiten Garnitur Kleidung nur ein Beutel mit Toilettenartikeln, ein Klappmesser, ein Schlagring und ein matschiges, stinkendes Etwas in einer McDonalds-Pappschachtel. Es mag ja sein, dass ich durch meinen besonders ausgeprägten Geruchsinn, etwas übersensibel sein mag, aber das Menschen so etwas wirklich essen... Unbegreiflich. Außerdem fand ich in der Seitentasche des Rucksacks noch einen Geldbeutel; beklagenswert leer, das Mädchen hatte in Bezug auf ihre finanzielle Situation wirklich nicht übertrieben. Statt Geldscheinen fanden sich allerdings andere interessante Gegenstände in dem Portemonnaie: 3 Kondome, die laut Aufschrift des Herstellers nach Banane schmecken sollten, ein Blutspendeausweis, sowie eine Telefonkarte; etwas, dass ich seit dem Aufkommen dieser neuartigen Mobiltelefone, bei kaum einem Menschen mehr gefunden habe und, last but not least, ein abgegriffener deutscher Personalausweis. Nach kurzer Lektüre fand ich heraus, dass das Mädchen Julia Spencer hieß, die amerikanische und deutsche Staatsbürgerschaft besaß und am 21. November dieses Jahres ihren 18ten Geburtstag feiern wird. Ich warf einen Blick auf den abgegriffenen Pin-up-Kalender an der Wand meines Zimmers; in genau drei Tagen würde dieses schöne Mädchen volljährig werden. Ihr Passbild zeigte das sympathische, wenn auch etwas bockige Gesicht eines etwa 15jährigen Mädchens, mit natürlichen schwarzen Haaren und ohne diesen hässlichen Nasenring. Ich bezweifle, dass ein Carabinieri ihr glauben würde, dass dies wirklich ihr echter Personalausweis war.
Ein leises Stöhnen brachte meine Aufmerksamkeit zu der Besitzerin des Ausweises zurück, ich eilte an das Bett und sah, dass das Mädchen, Julia, ihre Augen aufgeschlagen hatte, die nun verwirrt an der verwitterten Stuckdecke einen Bezugspunkt suchten. "Wo... bin ich?" fragte sie mit einer, von der langen Ohnmacht strapazierten, krächzenden Stimme. Ich antwortete, wobei ich versuchte so viel Verlässlichkeit und Beruhigung in meine Stimme zu legen, wie möglich: "Ganz ruhig. Seien sie unbesorgt. Es hat einen Kampf gegeben und sie sind dabei am Kopf verletzt worden. Seien sie ganz ruhig, sie sind jetzt in Sicherheit." Sie war angesichts der Tatsache, dass sie in einem Kampf verletzt worden, weniger erschrocken, als ich gefürchtet hatte, allerdings war es vermutlich auch nicht das erste Mal für sie. "Wo ... ist ...Marty?" Ihre Stimme war jetzt so leise, dass selbst ich mir schwer tat, sie zu verstehen. Marty war anscheinend der Name des anderen Punks; seinen Personalausweis hatte ich mir nicht angesehen. "Ich weiß es nicht. Aber seien sie beruhigt, ich bin mir sicher, es geht ihm gut. Versuchen sie jetzt, etwas zu schlafen." Meine Antwort war nicht einmal gelogen, ich wusste wirklich nicht wo Marty jetzt war. Das Wasser in den Kanälen von Venedig fließt ziemlich schnell, besonders, wenn es so viel regnet wie jetzt und ein Körper kann sich nach 20 Stunden sehr weit von dem Ort entfernt haben, an dem er ins Wasser gefallen ist. Und was den zweiten Teil anbelangt; für die meisten Menschen ist der Tod ein weitaus besserer Zustand als es das Leben je war und das Wörtchen "gut" ist ohnehin nur eine Frage der Einstellung. Nichts davon sagte ich jedoch dem Mädchen und erschöpft wie sie war, schlief sie nahezu sofort wieder ein, allerdings nicht ohne den beklagenswerten Zustand der weißen Zimmerdecke einer kritischen Musterung zu unterziehen.
Als sie wenige Stunden später wieder erwachte, ging es ihr schon bedeutend besser. Ich kam gerade wieder von meinem alltäglichen, oder besser allnächtlichen, Spaziergang zurück, sie wachte offenbar gerade wieder auf, als ich die Tür behutsam zuzog, denn ich hörte ein angestrengtes Husten. Ich eilte sofort zu dem Bett, in dem Julia lag, noch sehr blass, ohne Zweifel und doch sah man, dass sie nur noch wenige Tage brauchen würde, um wieder vollkommen gesund zu sein. Die Gehirnerschütterung konnte nicht allzu schlimm gewesen sein. Ich beugte mich über ihren schlanken Körper: "Wie geht es dir denn heute?" Mit einer geradezu rührenden Mischung aus Trotz und Schwäche antwortete sie: "Wer hat... ihnen gesagt, dass... sie mich... duzen ... dürfen?" Man merkte wie sehr das Sprechen sie noch anstrengte, doch sie bemühte sich verständlich und deutlich zu sprechen: "Kann ich ... etwas ... zu Trinken bekommen..., bitte?" Ich öffnete den Schrank, in dem ich "mein" Geschirr aufbewahrte, nahm das am wenigsten verstaubte Glas heraus, wusch es in der Spüle aus und füllte es mit Leitungswasser. Ich setzte ihr das Glas vorsichtig an die Lippen und sie trank, trank mit der Gier einer Verdurstenden, trank mit der gleichen Gier, mit der ich nur einen Tag zuvor das Blut ihres Freundes getrunken hatte.
"Besser?" fragte ich besorgt. Sie nickte erschöpft, als hätte sie durch das Wasser Kraft verloren und nicht hinzugewonnen. "Haben sie Hunger? Soll ich ihnen eine Suppe machen?" Bei der Aussicht auf etwas zu essen lief ein Glitzern durch ihre Augen. "Ja, ...bitte." Ich ging in die Küche und wärmte die Brühe, die ich vor ein paar Stunden für sie gemacht hatte auf meinem alten Gasherd vorsichtig wieder auf und füllte sie dann in einen hochwandigen Suppenteller, den ich meiner Patientin ans Bett brachte. Sie schaute mich verständnislos an, deshalb ermunterte ich sie: "Essen sie ruhig. Ich bin sicher sie wird ihnen schmecken." "Könnte ich vielleicht... einen Löffel bekommen?" Innerlich wurde ich knallrot, auch wenn meine Haut ihre Blässe keineswegs verlor. "Natürlich. Tut mir leid." Ich hastete in die Küche, kramte in Schubladen, die ich seit Jahren nicht mehr geöffnet hatte. Schließlich fand ich einen silbernen Löffel, der so prunkvoll verziert war, dass er einmal am Tisch eines Edelmannes gelegen haben mochte, jedoch war das Silber angelaufen und geschwärzt, so dass die Ornamente kaum zu erkennen waren. Immer noch peinlich berührte kehrte ich zu Julia zurück und brachte ihr den Löffel. Sie aß schweigend, ganz ins Essen vertieft, als wäre es etwas, was ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. Sie bewältigte den ganzen Teller mit Suppe, fragte jedoch nicht, ob sie mehr bekommen könne. Nachdem ich den Teller in die Küche geräumt und abgewaschen hatte, setzte ich mich neben Julia ans Bett. Das Mädchen faszinierte mich immer mehr und trotz des Nasenrings und der unnatürlichen Haare, empfand ich fast so etwas wie ... Anziehung, ja Anziehung zwischen dem Mädchen und mir. Julias Stimme schreckte mich aus meiner Betrachtung: "Wer sind sie und was ... mache ich eigentlich hier?" Ich musterte sie noch einen Moment nachdenklich, dann antwortete ich: "Mein Name ist Engravo, Engravo Castello. Ich fand dich an der an einer Bootshaltestelle liegend. Du warst besinnungslos und blutetest." Ich hob meine Hand und deutete auf ihren Kopfverband. "Da ich nicht wusste, ob du hmm... einen Krankenhausaufenthalt zu finanzieren in der Lage gewesen wärest, brachte ich dich in meine bescheidene Unterkunft. Ich konnte dich ja schlecht einfach so liegen lassen." Ich räusperte mich. "Wie geht es dir?" Sie antwortet, äußerlich ganz ruhig und nur eine Spur zu schnell: "Danke,... gut." Ich konnte ihre Angst förmlich riechen, Angst vor einem seltsamen, bleichen Fremden, der sie entführt hatte und dem sie so schnell wie möglich entkommen wollte. "Du musst keine Angst haben. Du kannst hier jederzeit wieder gehen, ich habe dich wirklich nur aufgenommen, um dich zu pflegen." Ein verblüffter Ausdruck stahl sich auf ihr Gesicht "Lesen sie meine Gedanken?" Nun, in Wirklichkeit kam das der Wahrheit recht nahe, aber das hätte sie wohl nur noch mehr beunruhigt. So antwortete ich mit einem Lächeln: "Sie sind nur allzu deutlich auf deiner Stirn geschrieben. Aber du brauchst wirklich keine Angst zu haben." Sie dachte einen Moment nach, dann richtete sie sich ruckartig auf und sah mir in die Augen: "Warum haben sie mich hierher gebracht?" Ich erwiderte ihren Blick lächelnd: "Nimm einfach an, dass ich ein Mensch bin, der anderen Leuten gerne hilft und der sich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken lässt. Auch wenn ich dir sagen muss, dass der Ring, den du da in der Nase trägst, dein wunderschönes Gesicht außerordentlich verschandelt." Julia starrte mich einen Augenblick fassungslos an und öffnete schon den Mund, um erbost aufzufahren, da erkannte sie, dass ich einen Scherz gemacht habe. So kühl, wie es ihr nur irgend möglich war, entgegnete sie: "Ich wüsste nicht, dass ich ihnen erlaubt hätte, mich zu duzen, Herr ... Castello. Ich bin volljährig und ich bezweifele, dass wir in einem Verhältnis stehen, dass sie dazu berechtigt."
"Sie sind zwar nicht volljährig, zumindest noch nicht, aber ich werde ihrem Wunsch folge leisten, ... Frau Spencer." Sie blickte mich erwirrt an: "Woher kennen sie meinen Namen?" Ich zauberte ihren Ausweis aus meiner Tasche, stand auf, überreichte ihn ihr und wandte mich zum Gehen: "Ich muss noch ein paar Besorgungen machen, ich werde in wenigen Minuten zurück sein." Ich verließ meine Wohnung durch die Tür, ohne Abzuschließen und kehrte nach einer halben Stunde, mit einer Plastiktüte wieder zurück. Ich hatte nahezu erwartet, dass ich die Wohnung leer vorfinden würde, aber stattdessen sah ich, wie Julia an meinem Tisch saß, mit dem Rücken zur Tür und angestrengt das Schachbrett betrachtete, auf dem ein schwieriger Vierzüger aufgebaut war. Sie sah sich um, als ich die Tür leise ins Schloss zog, widmete sich aber wieder der Aufgabe, als sie mich erkannte. Ich begann damit, die verschiedenen Lebensmittel in die Küchenschränke einzuräumen. Recht willkürlich, es lohnte sich kaum, zu versuchen sie zu ordnen, da es ohnehin nicht mehr lange dauern würde, bis Julia mich wieder verlassen und meiner selbstgewählten Einsamkeit übergeben würde. Als ich wieder in das Zimmer zurückkam, war Julia aufgestanden und sah mich anklagend an: "Diese Aufgabe hat gar keine Lösung." Ich lächelte und fragte: "Möchtest du spielen?" Sie sah mich prüfend an: "Spielen sie gut? Ich möchte nur ungern meine Zeit, an einen Anfänger verschwenden." Ich setzte mich schweigend auf den einen Stuhl und begann die Figuren aufzubauen. Julia setzte sich und ich fragte sie: "Schwarz oder Weiß?". Sie drehte das Brett so, dass die schwarzen Figuren vor ihr angeordnet waren und behauptete: "Weiß beginnt, Schwarz gewinnt." Schweigend machte ich meinen ersten Zug. Wir spielten drei Partien, von denen ich zwei gewann und die zweite nur verlor, weil ich unvorsichtigerweise auf ein Bauernopfer hereinfiel, dass jeder drittklassige Turnierspieler erkannt hätte. Doch sie spielte gut, sogar erstaunlich gut, angesichts ihrer Jugend. Außerordentlich launisch, als sei sie nicht selbst Herr über ihre Aktionen. Zuweilen tollkühn und wagemutig, mit Fallen und Finten, die schon fast genial anmuteten, dann wieder defensiv und reagierend, fast übervorsichtig. Auch wenn sie schnell zog und einige Figuren leichtsinnig verspielte, übertraf sie doch alle Gegner, mit denen ich in den letzten zehn Jahren gespielt hatte um ein weites. Nach dem letzten Matt funkelte sie mich wütend an:" Was sind sie eigentlich? Großmeister?" Ich lächelte. "Auf wie vielen Turnieren haben sie gespielt, Julia?" Sie sah mich stirnrunzelnd an: "Ein paar, wieso?" "Und was schätzt du, auf wie vielen Turnieren habe ich gespielt?" Immer noch war sie verwirrt. "Keine Ahnung, auf ziemlich vielen." Ich holte tief Luft. "Lass mich dir sagen, dass ich noch nie in meinem Leben an einem Turnier teilgenommen habe. Und lass mich dir sagen, dass ich die letzten zehn Jahre weniger als ein duzend Gegner hatte. Und weißt du warum? Weil das wahre im Schachspiel, das wirklich wichtige, das was wirklich zählt, nicht durchs Spielen kommt. Du darfst nicht spielen, um zu gewinnen. Denn wenn du wirklich am Schach teilnimmst, dann spielst du nicht. Dann wirst du eins mit deinen Figuren. Dann bist du das Schachspiel und alles andere unwichtig. Wie viele Gegner hast du schon besiegt, nur, weil diese sich überlegen fühlten, weil sie dachten, dass ein junges Mädchen mit rosa Haaren nicht Schach spielen kann? Für mich gibt es dieses Mädchen gar nicht mehr, wenn ich spiele. Ich bin die Figuren und durch diese Figuren ziehe ich, denke ich, handle ich. Das ist Schach, das wirkliche Schach und alles andere ist nicht mehr als schwarze oder weiße Figuren durch die Gegend zu schieben. Das wahre Schachspiel ist in dir." Ich beugte mich vor und nahm die polierten marmornen Figuren auf, langsam und einzeln, wie ein geheimnisvolles Ritual und legte sie sanft in die samtumhüllte Schachtel. Julia sah mich immer noch an, sie dachte über das nach, was ich gerade gesagt hatte.
Ich sah auf die Uhr, noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang. Ich erhob mich und begann die Rolläden herunter zu lassen, sorgsam und langsam,. Ich überzeugte mich noch einmal, dass nicht der kleinste Lichtstrahl durch die Fenster brechen könnte, dann trat ich zurück in das, was ich etwas anmaßend mein Wohnzimmer nenne. Julia sah mich mit einem fragenden Blick an: "Weshalb schließen sie die Rollläden am Morgen und nicht abends, wie jeder normale Mensch?" Ich lächelte über die Formulierung "normaler Mensch", dann wurde ich wieder ernst. Ich deutete auf mein Gesicht. "Sonnenallergie. Selbst eine geringe Menge an Sonnenlicht bereitet mir starke Schmerzen und lässt meine Haut aufplatzen. Deshalb gehe ich der Sonne so gut es geht aus dem Weg und verlasse mein Haus nur noch nachts. Das Licht der Sterne und des Mondes machen mir nichts aus." Sie sah ziemlich erschrocken aus. Es ist verblüffend, wie viel die Menschen einem glauben, wenn man nur das Wort Allergie in den Mund nimmt. Heutzutage sind die Allergien unter den Menschen so häufig geworden, dass sie fast gegen alles allergisch sind und so zeigen die Menschen eher Mitleid als Verwunderung, wenn ich erzähle, weshalb ich nicht bei Tage nach draußen kann. Allerdings bin ich selten genötigt, mich mit Menschen darüber zu unterhalten, denn mein menschlicher Bekanntenkreis ist nicht das, was man besonders ausgeprägt nennen würde. Auch Julia zeigte dieses Mitleid, dass ich vermutlich entsetzlich finden würde, wenn ich wirklich unter eine Sonnenallergie zu leiden hätte; so erschien es mir nur als amüsant und eine weitere unter den vielen Schwächen, die die Menschen besitzen. "Aber das ist ja schrecklich. Dann können sie also nie das Tageslicht sehen, nie einen Sonnenaufgang beobachten? Das ist ja ..." Sie schlug die Hand vors Gesicht. "Tut mir leid. Ich wollte sie damit nicht verletzen." Wie sehr die Reaktionen der Menschen sich doch gleichen... "Schon gut. Ich habe gelernt damit umzugehen." Natürlich war sie nicht überzeugt und sah mich weiterhin an, sagte aber nichts weiter.
Einige Minuten vergingen, ohne dass einer von uns etwas sagte, da stand Julia plötzlich auf. "Ich muss jetzt gehen." Sie wartete einen Augenblick, darauf, dass ich etwas sagen würde, vielleicht um sie zurückzuhalten. Dann fuhr sie hastig fort: "Ich wollte mich nur noch mal bedanken, dass sie mich aufgenommen und versorgt haben." Es war verwunderlich, dies aus dem Munde eines Punks zu hören, auch wenn es vermutlich für sie nicht mehr als eine Floskel war. Trotzdem fuhr sie fort: "Ich komme auf jeden Fall heute Abend wieder vorbei. Also tschüs dann." Rückwärts ging sie auf die Tür zu, als hätte sie immer noch Angst, dass ich versuchen würde, sie zurück zu halten. Langsam öffnete sie die Tür und verschwand in den Gassen von Venedig, die noch immer im Dunkel lagen und nass waren, vom Regen.

Part 3

Verstehen sie mich bitte nicht falsch, ich gab mich keinerlei Illusionen hin, dass das Mädchen wirklich am Abend vorbei kommen würde. Welchen Grund hatte sie auch, wir waren nun wirklich aus verschiedenen Welten und als Punk wusste sie sich sehr gut allein zurecht zu finden, selbst, wenn sie ihren Freund auf so tragische Weise verloren hatte und ohne finanzielle Mittel da stand. Und doch... Obwohl ich das alles wusste, warf ich die paar Lebensmittel, die ich halb zur Tarnung, halb aus Hoffnung, das Mädchen würde länger bleiben, gekauft hatte, nicht in den Mülleimer. Und als ich nach wenigen Stunden Schlaf um fünf Uhr nachmittags wieder aufwachte, da merkte ich, dass ich geträumt hatte und zwar von Julia, wie sie einsam und allein an einer Bootshaltestelle hockte und ihren Geburtstag auf die schlimmste aller Möglichen Arten feierte, die nur möglich schienen. Doch allein die Tatsache, dass ich geträumt hatte verunsicherte mich mehr, als alles, was in dem Traum abgelaufen war. Denn mein letzter Traum war ungefähr 12 Jahre her, kurz bevor ich nach Venedig gekommen war. Damals war es einer jener wirren Albträume gewesen, die auch bei Menschen so oft vorkommen und die bei unsereinen auftreten, wenn wir entkräftet und aufgezehrt sind und das war ich, oh ja das war ich.
Doch dieser Traum war anders gewesen, ganz anders. Ich ertappte mich, wie ich beim Anziehen sorgfältig darauf achtete, welche Hose und welches Hemd, welche Krawatte ich auswählte, etwas, an dass ich sonst nicht einmal im Traum gedacht hätte. Auch, als ich die neueste Schachaufgabe aus der Zeitung auf meinem Brett aufbaute, bemerkte ich, dass ich nicht richtig bei der Sache war. Schon der kleine Zweizüger, der normalerweise gerade dazu angetan wäre, mich warm zu machen, erwies sich als unlösbar und ich ertappte mich immer wieder, wie ich hoffnungsvoll zur Tür sah. Schließlich, sah ich ein, dass es keinen Sinn hatte. Ich streifte mir meinen Mantel über, denn die Sonne war gerade unter gegangen und machte mich, um etliches früher als sonst, auf meinen Spaziergang. Doch selbst das brachte mir nicht die gewohnte Ruhe und Ausgeglichenheit, ich hastete durch die engen Gassen Venedigs, nur um meine übliche Strecke hinter mich zu bringen, angstvoll, Julia könnte gerade in diesem Augenblick an meiner Tür stehen. Als ich zurückkehrt, war gerade eine halbe Stunde seit Dämmerung vergangen und die ganze Nacht lag noch vor mir. Gerade als ich um die Ecke der Seitenstraße meiner Wohnung bog, schien es mir, als wäre am anderen Ende der Gasse gerade ein Aufblitzen von pink gefärbten Haaren zu sehen gewesen. Ich schallt mich selbst einen paranoiden Narren, was mich allerdings nicht daran hinderte, ebenfalls ans andere Ende der Gasse zu hasten; vergeblich natürlich, von Julia war nichts zu sehen. Schweren Herzen kehrte ich zu meiner Wohnung zurück, die mir, so ausreichend sie in den letzten 12 Jahren gewesen war, langweilig und unzulänglich vorkam. Ich setzte mich auf mein Bett und starrte die Wand an, als plötzlich der Ton meiner Wohnungsglocke mich aus meinen Gedanken riss. Schon wollte ich aufspringen und zur Tür hasten, da fing ich mich selbst wieder. Gemessenen Schrittes ging ich die wenigen Meter, die mich von der Eingangstür meiner Wohnung trennten. Ich lugte durch den Spion meiner Tür, doch seltsamerweise war nichts zu sehen. Ich legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spaltbreit, doch draußen schien sich kein Mensch zu befinden. Und doch... Ich konnte die Nähe von menschlichem Blut riechen und ganz leise vernahm ich die angestrengten Atemzüge eines Menschen, der versuchte, keinen Laut von sich zu geben. Langsam und vorsichtig schob ich die Sicherheitskette zurück und öffnete die Tür, bedächtig, Stück für Stück. Noch immer konnte ich nichts erkennen, doch der Geruch wurde immer stärker. Ich tastete mich langsam vor, und warf einen prüfenden Blick auf die Gasse rechts und links meiner Wohnung.
"Juuuhhhuuuuu!" ertönte es von hinter mir. Ich sprang eine Schritt nach vorne und schnellte herum. Da erblickte ich Julia, auf dem kleinen Vorsprung über meiner Tür kauernd und merklich erfreut über den Schrecken, den sie mir eingejagt hatte. Lauthals lachend sprang sie von ihrem Versteck herunter und fing den Sprung ab, elegant wie eine Katze. "Ich hatte ihnen doch gesagt, dass ich heute Abend noch vorbeikommen würde. Warum sind sie so überrascht?" Wieder lachte sie, hell, voller purer Lebensfreude. "Los ziehen sie sich ihren Mantel an. Unternehmen wir etwas!" Ich ging zurück in meine Wohnung, schlüpfte in meinen Mantel, wickelte mir meinen Schal um den Hals und trat wieder zurück auf die Straße. Julia lehnte an der Mauer und rauchte. Als sie mich erblickte, warf sie ihre Zigarette in den Kanal. "Also los. Auf geht's!" Wir gingen zusammen los, sie immer ein paar Schritte vor mir, wie ein neugieriger, junger Hund, immer witternd, wohin der Weg führen sollte. Schließlich kamen wir in eins der heruntergekommenen Viertel Venedigs, nahe der Stadtgrenzen, in dem die wunderschönen alten Bauten verschmiert waren mit Graffitis und nach Verwesung und Moder rochen, wie ein Leichnam an einem heißen Sommertag. Als sie ein blinkendes Neonschild, mit der vielversprechenden Aufschrift "Luna Piena" in einem verlassenen Hinterhof entdeckte, ging sie zielstrebig darauf zu. Ich ergriff sie an der Schulter. "Du bist wirklich sicher, dass wir da reinwollen?" Julia zuckte nur mit den Schultern und öffnete die Tür.
Eine Rauchwolke schlug uns entgegen und nahm uns den Atem und die Sicht, als wir die Spelunke betraten. Ein gutes Duzend unrasierter, verdreckter Männer saß an etwa 10 nicht viel saubereren Tischen, während ein leiernder Kassettenrecorder ohrenbetäubenden Hardrock spielte und im Hintergrund die Billardkugeln zusammenprallten. Früher hatte ich diese Art von Kneipen öfters besucht, um mir Opfer zu suchen, aber nach kurzer Zeit hatte ich von dem, mit Wein und Schnaps verunreinigten Blut der Kneipenbesucher die Nase voll. Das letzte Mal, dass ich in so einem Lokal gewesen war, mochte 20 Jahre her sein, vielleicht auch dreißig. Doch Julia schien in ihrem Element zu sein. Sie räumte kurzerhand einen Tisch frei, an dem zwei Betrunkene ihren Rausch ausschliefen, was für sie am Boden doch weitaus bequemer war. Dem einen, der trotzdem noch versuchte aufzustehen, setzte ich mit einem diskreten Tritt gegen den Solarplexus entgültig außer Gefecht. Als ich mich weitestgehend akklimatisiert hatte, kam auch schon eine Bedienung angeschlurft. Julia bestellte einen Whiskey on the Rocks, ich nahm aus verständlichen Gründen einen Bloody Mary. Während wir auf unsere Getränke warteten, hatte Julia am Nebentisch schon ein Gruppe Pokerspieler entdeckt und stand auf, um sich an dem Spiel zu beteiligen. Ich blieb an meinem Tisch sitzen und beobachtete sie schweigend. Julia schien mich weniger als Begleitung, sondern viel mehr als Publikum aufzufassen, die Blicke, die sie mir zuwarf waren beifallsheischend. Die Getränke, die ich sofort bezahlte, kamen und ich probierte einen Schluck meines Bloody Mary, nur um ihn daraufhin für den Rest des Abends vor mir stehen zu lassen. Ich kann nicht sagen, ob Julia betrog oder nicht, auf jeden Fall gewann sie ununterbrochen. Und ich glaube nicht, dass mir je etwas so viel Freude bereitet hatte, als Julia zuzusehen, wie sie spielte. Grimassenschneidend, mit ärgerlichen Flüchen wenn etwas schief ging, dann wieder lauthals lachen, wenn sie mit zwei Buben eine Straße geblufft hatte. Ich weiß nicht, woher sie ihr Startkapital hatte und es interessierte mich auch nicht. Sie bestellte sich einen Whiskey nach dem anderen, ohne, dass sie erkennbar betrunken wurde, nur ihr Lachen wurde lauter, ihre Grimassen grotesker und ihr Spiel tollkühner. Nach einiger Zeit - ich könnte heute nicht sagen, wie lange- schien sie ihr Interesse an dem Spiel zu verlieren. Sie griff sich die Geldscheine, die vor ihr lagen, stopfte sie in ihre Tasche und bedeutete mir mit dem Kopf, dass sie gehen wollte. Ich stand auf und wendete mich schon nach draußen, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie einer der Spieler aufstand, Julia am Ärmel griff und sie mit italienischen Schimpfworten überhäufte, die Julia zum Glück nicht verstand. Als sie sich losriss baute sich der Schläger drohend vor ihr auf. Doch da war ich schon bei den beiden angelangt. Ich riss den Rowdy herum und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihn gegen den Tisch der Pokerspieler schleuderte und diesen umwarf; dann griff ich Julia am Ärmel und rannte mit ihr zum Ausgang, verfolgt von den Flüchen und Todesdrohungen der Spieler.
Wir rannten noch einige Ecken weiter, bis ich sicher war, dass wir nicht verfolgt wurden. Dann packte ich Julia, die immer noch außer Atem war, von dem kurzen lauf. "Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?" herrschte ich sie an. "Das hätte böse ausgehen könne, wenn ich nicht gekommen wäre." Julia rang immer noch um Luft, als sie endlich wieder sprechen konnte. "Was ... sind sie eigentlich? Straßenkämpfer?" Plötzlich kicherte sie los. "Nein, sagen sie nichts!" Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und begann mit tiefer Stimme zu sprechen, eine treffende Imitation meiner selbst. "Das wahre beim Kämpfen, das wirklich wichtige, das was wirklich zählt, kommt nicht durch Üben. Das wahre Kämpfen ist in dir." Sie schüttelte sich vor Lachen.
Und seltsam, so ernst es mir mit meinem Zorn gewesen war, so schnell war er auch verraucht, weggeblasen, von dieser Parodie meiner eigenen Worte. Ich schmunzelte und begann schließlich zu Lachen, angesteckt von Julias unbedarfter Fröhlichkeit. Noch immer lachend, fragte sie: "Was machen wir jetzt?". Ich überlegte kurz, dann fragte ich sie: "Bist du hungrig?" "Das kannste laut sagen!" "Na gut, dann mal los." Zwar waren wir ein ziemliches Stück von dem Ort entfernt, doch weder mir noch ihr schien das etwas aus zu machen. Wir unterhielten uns über dies und das, die etwas intimere Variante von Smalltalk sozusagen, ohne dass irgendetwas wichtiges angesprochen wurde. Als wir den Ort erreichten, den ich angesteuert hatte, blieb Julia wie angewurzelt stehen. Sie ließ ihren Blick über die Marmorfassade des Restaurant schweifen, hin zu den dschungelartigen Blumendekors, dem in rot und gold gekleideten Portier, der Tür aus poliertem Ebenholz und dem goldenen Kasten mit der Speisekarte.
"Da bringen mich keine zehn Pferde rein." murmelte sie langsam, aus tiefster Überzeugung. Jetzt war es an mir, schadenfroh zu grinsen. "Du hast mich in diese Spelunke geschleppt, jetzt kommst du mit hier rein." Ich fasste sie am Arm und zog sie auf die Eingangstür zu. Julia war immer noch zu perplex, um sich zu wehren. Der Portier stellte sich mir in den Weg und faselte etwas von "So dürfen sie hier aber nicht rein" und "das geht aber nicht" aber er beruhigte sich wieder, als ich ihm versichert hatte, dass das schon in Ordnung ginge; unterstützt von einem 100.000 Lire Schein, den ich ihm in die Jackentasche steckte.
Als wir den großen, festlich gerichteten Saal betraten, verstummten mit einem Schlag alle Gespräche und etwa 20 Augenpaare richteten sich auf uns. Julia sah aus, als würde sie am liebsten vor Scham im Boden versinken, während ich heiter vor mich hinlächelnd neben ihr stand. Wenn man tot ist, braucht man sich nicht mehr sonderlich um gesellschaftliche Etikette zu kümmern. Ein Kellner befreite Julia schließlich aus ihrer misslichen Lage. Er war unverkennbar ein Engländer, steif, bis in die Haarspitzen und mit einem leichten, aber doch unverkennbaren Akzent. Das nun einsetzende Gemurmel der übrigen Gäste schien ihn nicht weiter zu stören; wenn der Türsteher uns hinein gelassen hatte, dann waren wir Gäste und Gäste hatten ein Anrecht darauf angemessen bedient zu werden. "Zwei Personen, Signore?" Und als ich dies mit einem Nicken beantwortete: "Den Tisch dort hinten in der Ecke, oder direkt hier am Eingang." Ich entschied mich für den am Eingang, nicht etwa aus Gehässigkeit, sondern einfach, weil der Blick aus dem Fenster hier schöner war. Wir setzten uns. Julia zischte mir zu: "Das wirst du mir büßen.", eine Drohung, der ich verhältnismäßig gelassen entgegen sah. Nach wenigen Sekunden erschien ein Kellner, der die Karte brachte und die Getränkebestellungen entgegennahm. Wir führten eine kleine, aber angeregte Diskussion über die zu empfehlenden Weine, dann entschied ich mich für einen Boreaux des letzten Jahres , während Julia nur hilflos nickte, was der Kellner als Zustimmung interpretierte. Wir warteten, schweigend, während rings um uns die Gespräche langsam wieder zu plätschern begannen. Julia versuchte sich so unauffällig wie möglich zu verhalten; ein vergebenes Unterfangen, denn immer wieder erhaschte ich neugierige Blicke, die von den anderen Tischen herüberflogen. Der Kellner kam, um die Bestellungen aufzunehmen und ich sah, wie Julia versuchte, mich mit mörderischen Blicken aufzuspießen. Doch ich ließ mich davon nicht weiter irritieren, fragte den Kellner, was er den heute besonders empfehlen könne. Er schlug ein ausgewogenes Drei-Gänge-Menu vor und ich sah keinen Grund, ihm nicht zuzustimmen. Er entfernte sich gemessenen Schrittes, nur um kurz darauf wieder mit dem Besteck aufzutauchen. Julias Augen wurden groß, bei dem Anblick der drei verschiedenen Messer und Gabeln. Als er sich wieder entfernt hatte, fragte mich Julia mit gedämpfter Stimme: "Warum tust du mir das an?" Ich lächelte. "Revanche. Du zeigst mir deine Welt. Ich zeige dir meine Welt." Sie stutzte. "Aber..., das hier ist doch nicht ihre Welt. Ich meine, schauen sie sich doch einmal ihre Wohnung genauer an." "Oh, ich bin in vielen Welten zuhause. Etwas, was du dir auch angewöhnen solltest." Sie schwieg, überlegend. Sonderbarer Weise war sie weder verärgert über die Tatsache, dass ich sie schon wieder duzte, noch darüber, dass ich ihr seltsame Ratschläge erteilte.
Der Wein kam, ich probierte, befand ihn für gut und ließ den Kellner einschenken. Ich erhob mein Glas. "Auf diesen Abend." Sie zögerte, nahm dann aber auch ihr Glas und stieß es mit einem sanften Klingen gegen meines. "Auf diesen Abend." Es vergingen einige Augenblicke, dann fragte sie: "Wie wollen sie dieses Essen eigentlich bezahlen?" Wieder lächelte ich. "Du hast eine ganze Menge Geld gewonnen, beim Pokern." Sie sah mich entgeistert an. "Aber..., das ist mein Geld." "Nicht mehr.", antwortete ich und zog ihr Portemonnaie aus meiner Jackentasche. "Oder hast du es etwa noch?" Wieder starrte sie mich an. "Was sind sie eigentlich? Ein..."
"...Dieb? Ja, ich denke so könnte man es nennen." Wieder versank Julia in Schweigen, tief in Gedanken. Als sie ihre Stimme wieder erhob, war sie voller Ernst, ihre Fröhlichkeit wie weggewischt. "Erfüllst du mir einen Wunsch, Engravo? " Sie sah mir tief in die Augen und ich entdeckte, dass ebendiese Augen, die ich für blau gehalten hatte in Wirklichkeit grau waren, wie das Wasser an einem verhangenen Novembertag. "Jeden den du willst." Sie atmete tief ein. "Zeigst du mir deine wahre Welt? Dein wahres Ich?" Und ich weiß bis jetzt nicht, ob Julia es zu diesem Zeitpunkt schon ahnte, oder ob sie nur unter meine vielen Verkleidungen sehen wollte, ich weiß es wirklich nicht. Einige Momente schwieg ich, hielt ihre Augen gefangen und gelähmt, dann: "Bist du sicher, dass du das wirklich willst?" Sie erwiderte meinen Blick, fest und stark. "Ja, das will ich." "So sei es." Ich winkte dem Ober, es war der Engländer. "Wir würden gerne bezahlen." Ohne mit der Wimper zu zucken, oder darauf hinzuweisen, dass wir noch nicht gespeist hatten antwortete er: "Wie sie wünschen, Signore. Ich komme sofort." Nach wenigen Augenblicken erschien er wieder und übergab mir die Rechnung. Ich zog meinen Geldbeutel und überreichte ihm einen 100.000 Lire Schein. Dann stand ich auf, nahm Julia an die Hand und wir verließen das Restaurant. Sie wollte etwas sagen, aber ich schnitt ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. Ich winkte ein Bootstaxi an einem der Kanäle herbei und wir stiegen hinein. Ich fragte den Fahrer: "Kennen sie das alte Werftgelände am Ostrand von Venedig?" Er nickte. "Bringen sie uns auf dem schnellsten Wege dorthin." Er zuckte die Achseln und fuhr los, durch die kaum beleuchteten Kanäle des nächtlichen Venedigs. Die ganze Fahrt über sprach keiner von uns dreien ein Wort; nur das Rauschen des Wasser und das Tuckern des altersschwachen Dieselmotors war zu hören. Als wir ankamen, zeigte der Fahrer auf seinem Taxameter und ich gab ihm die angegebene Summe.
Julia und ich stiegen aus. Das Werftgelände lag im Dunkeln, nur das Licht der Sterne und des Mondes erhellte die verrosteten Aufbauten. Ich erinnerte mich nur gut genug, an welcher Stätte es gewesen war und ich führte Julia zu dieser Stelle und all die Erinnerungen an diesen kalten und windigen Tag vor genau 200 Jahren strömten auf mich ein, als wäre ein Deich gebrochen und als würde ich nun überflutet von dem, was an jenem Tage geschehen war. Als wir die Stelle erreicht hatten nahm ich Julia in meinen Arm, fest, beschützend. Und leise, ganz leise, begann ich die Worte zu rezitieren, die ich das letzte Mal vor 200 Jahren gehört hatte, aus dem Mund dessen, der mich zu dem gemacht hatte, was ich heute bin:

"It feels as if the winds stands still and careful hold their breath.
As if the world obeys your will and all the birds sing death.
A single, unexampled tone swings through the misty air
a wolf appears, far, far from home, with black and silver hair.
His claws are broken, splittered, crushed, his face is full of scars.
but as he sings his bitter song, his eyes are bright like stars."

Als ich geendet hatte, war mir, als ob die ganze Welt ihren Atem anhielte, als ob die Zeilen des Gedichtes Wirklichkeit geworden wären, und ich fragte mich, ob mein Mörder diese Ruhe auch gespürt hatte. Ich richtete meine Augen auf Julias Gesicht und ich sah eine einzelne Träne ihre Wange herablaufen, wie eine kostbare Perle. Und als ich meine Zähne in Julias Hals grub und ihr Blut meine Kehle herab rann, da war mir, als hörte ich einen leisen, friedlichen Ton, der auf und nieder schwang, der näher kam, sich entfernte und doch nie ganz verschwand, wie ein ruheloser, unsichtbarer Geist.